Hat einen Film über das Spionagesystem Pegasus realisiert: Anne Poiret. Bild: Thibault Delavigne

Aktuell – 17.06.2023

Der Spion in unserer Hosentasche

Ein Konsortium von Journalistinnen und Journalisten enthüllte im Juli 2021 die Existenz von Pegasus, einer Spionagesoftware, die sich auf unseren Smartphones einnistet. Wo stehen wir heute, nach der Enthüllung?

Von Anna Aznaour

Erpressung ist nach wie vor in Mode. Ändern tun sich einzig die Werkzeuge, um an vertrauliche Informationen heranzukommen. Heutzutage erreichen uns solche Einschüchterungstools über ­unser ach so geliebtes Kuscheltier – das Smartphone. Diese werden von Antiterrorgesetzen banalisiert und versorgen einen äusserst lukrativen Markt: jenen für Überwachungssoftware. Und um diesen wiederum reissen sich die Regierungen. Wirklich effektiv sind sie allerdings nicht, wenn es darum geht, Terroranschläge zu verhindern und die Täter frühzeitig ausfindig zu machen – doch genau das wäre offiziell ihre Aufgabe.

Für Investigativjournalistinnen, Menschenrechtsaktivisten oder politische Oppositionelle gibt es kein Entkommen: Sie wurden über Monate von der Spionagesoftware Pegasus beschattet – ohne ihr Wissen. Wie dessen Existenz entdeckt wurde, darauf wollte Laurent Richard, zu Gast am Festival international du film sur les droits humains (FIDH) * in Genf, aber nicht weiter eingehen. 2017 hatte er Forbidden Stories mit Unterstützung von Reporters sans frontières (RSF) ins ­Leben gerufen.

Der Zweck dieser IT-Plattform: sensible ­Personendaten von Journalistinnen und Journalisten zu ­sichern. Wie die Liste mit den Namen von 50 000 Personen, die zu potenziellen Zielscheiben von Pegasus geworden waren; mindestens elf Staaten hatten das Programm gekauft, um sie auszuspionieren. Nach dem Skandal, der auf die Enthüllungen vom 18. Juli 2021 in den Medien folgte, wurde im März 2023 in Genf der Film «Pegasus, un espion dans votre poche» gezeigt. EDITO unterhielt sich mit der Regisseurin Anne Poiret.

EDITO: Was war das Besondere an diesem Dokumentarfilm im Vergleich zu Ihren vorherigen Filmen?

Anne Poiret: Für den Film begannen die Dreharbeiten gleichzeitig mit der Untersuchung, die von den 80 Journalistinnen und Journalisten im Geheimen koordiniert und durchgeführt wurde. Am Anfang filmte der Journalist und Regisseur Arthur Bouvart. Später wurde ich angefragt, ob ich die Arbeit weiterführen möchte, die er begonnen hatte, aber nicht mehr fortsetzen wollte. Eine Gelegenheit, die ich ergriff. So übernahm ich sehr viel wichtiges Material, um daraus die interessantesten Facts, Spuren und Geschichten herauszuschälen. Nach den Enthüllungen in den Medien gingen die Dreharbeiten noch ein Jahr lang weiter.

Die Hauptfigur im Film ist eine aserbaidschanische Journalistin. Warum?

Ihr Fall ist sinnbildlich. Erstens, weil sie beim Journalisten-Konsortium dank ihrer investigativen Arbeit bereits gut bekannt war. Und da ihr Name auf der Liste der von Pegasus ausspionierten Personen stand, war sie am ehesten in der Lage, die Recherche zu verstehen und sie geheim zu halten. Umso mehr, da ohne ihr ­Wissen ihr Privatleben gefilmt und im Internet verbreitet wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, sich den Drohungen ihrer Regierung zu beugen, deren Korruption sie ­anprangert.

«Viele Menschen glauben nach wie vor, dass sie nicht betroffen seien, da sie ‹nichts zu verbergen haben›.»

Zweitens ist das undemokratische Aserbaidschan ein Verbündeter Israels. Im Wissen, dass die israelische Firma NSO das Spionageprogramm entwickelt hatte, passte es sehr gut, anhand der Geschichte dieser Frau zu veranschaulichen, wie verheerend eine solche technologische Waffe für betroffene Personen sein kann. Ganz zu schweigen von den Menschenrechtsverletzungen, die von ihrer Regierung begangen und von Aktivistinnen wie ihr aufgedeckt werden.

Was hat dieser Skandal konkret verändert?

Er hat ein grosses Bewusstsein geschaffen, insbesondere bei einigen Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Sie wurden sich bewusst, dass diese Gefahr auch sie betreffen könnte. Dadurch wurde eine Debatte über die Reglementierung von technologischen Spionagetools losgetreten, die in Realität Waffen sind und bislang ausschliesslich von ­Geheimdiensten verwendet wurden.

Zu den weiteren Auswirkungen dieses Skandals gehört, dass die USA die israelische Firma auf ihre schwarze Liste setzten. Geschädigte Unternehmen (Apple usw.) und ausspionierte Persönlichkeiten haben zudem Klage gegen NSO eingereicht. Trotz alldem glauben viele Menschen nach wie vor, dass sie nicht davon betroffen seien, «da sie nichts zu verbergen haben». Die Freiheit, die sie dank der Demokratie geniessen, läuft aber Gefahr, verloren zu gehen. Und mit ihr die Garantien für die Achtung der Bürgerrechte, zu denen auch die Sicherheit und Vertraulichkeit ihres Privatlebens gehört.

 


Und jetzt?

Im Oktober 2022 hat Amnesty International bei der UNO eine von 100 000 Personen unterzeichnete Petition eingereicht. Sie fordert den Stopp des Verkaufs, der Weitergabe und der Verwendung von Spionageprogrammen, um so «der illegalen und endemischen Überwachung von politischen Aktivistinnen, Journalisten, Anwältinnen und Politikern ein Ende zu setzen».

Im Bewusstsein, dass die Schaffung eines juristischen Rahmens lange dauert, forderte die NGO auch ein unverzügliches Verbot solcher Technologien während des rechtlichen Vakuums. Die EU ihrerseits hatte eine parlamentarische Untersuchung in die Wege geleitet. Der von der Abgeordneten Sophia in ’t Veld verfasste Bericht sollte den Weg ebnen, um die Schraube anzuziehen. Vor dem Hintergrund all dieser engagierten Aktionen war das Ergebnis am 8. Mai 2023 unbefriedigend – der Berg gebar eine Maus.

Trotz erdrückender Befunde der 15-monatigen Untersuchung haben die EU-Abgeordneten am Ende nur eine rechtlich unverbindliche Empfehlung für die Verwendung von Spionageprogrammen in der EU angenommen. Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch: Gefordert wird ein wirksames Verbot, allerdings unter ­bestimmten Bedingungen. Staaten wie die Schweiz arbeiten weiterhin mit NSO zusammen, während Journalistinnen die Entwicklungen von ChatGPT und Avatars ver­folgen, die sich alsbald ihre Identitäten widerrechtlich aneignen werden. So werden Widerspenstige als Terroristinnen und Terroristen abgestempelt und gewissermassen ­legal ausspioniert.


 

* FIFDH: Festival international du film sur les droits humains. Das Filmfestival findet jährlich im März in Genf statt.

 

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