Er ist Wissenschaftsjournalist und hat ein Buch über das gute Streiten geschrieben. Wir haben Reto U. Schneider deshalb gefragt, was Journalistinnen und Journalisten in und ausserhalb der Wissenschaft zu besseren Diskussionen beitragen können.
Was kann konstruktiver Streit, was Debatte oder Dialog nicht leisten?
Da stellt sich natürlich die Frage, was Streit bedeutet. Ich vermute: Bei einem Streit sind Emotionen im Spiel. Das bedeutet ein Streit kann eher Spannungen aufdecken und spiegelt keine Harmonie vor. Unterschiedliche Positionen können dabei zu unerwarteten Lösungen führen. Bei einem Streit stürzt man sich sehr direkt auf die Argumente des Gegners. Fehlschlüsse und Denkfehler treten so eher zutage. Ein Streit kann allerdings nur konstruktiv sein, wenn bei allen Parteien die Bereitschaft da ist, die eigene Meinung zu ändern. Auch wenn das alle von sich behaupten, ist es meistens nicht der Fall. Die Haltung vieler Leute in einer Diskussion kann man so zusammenfassen: Ich streite nicht, ich erkläre nur, warum ich recht habe.
Sie übersehen dabei, dass natürlich auch ihre Gesprächspartner überzeugt davon sind, recht zu haben. Das ist vielleicht der Kern jedes konstruktiven Streits: Wer nicht bereit ist, die eigene Position zu überdenken, sollte gar nicht zu diskutieren beginnen.
Wie streitet man journalistisch über komplexe Themen wie Klima, KI, Kriege, ohne Scheinausgewogenheit zu produzieren?
Das bleibt immer eine Gratwanderung. Einerseits soll die Vielfalt sichtbar werden, andererseits darf nicht der Eindruck entstehen, dass jede Position gleichwertig ist. Als erstes gilt es Fakten und Meinungen auseinanderzuhalten. Das scheint einfacher, als es ist. Es gibt zwar den schönen Spruch: Jeder hat Anrecht auf seine eigene Meinung aber nicht auf seine eigenen Fakten. Aber wenn wir uns nicht mehr einig sind, was gesichertes Wissen ist, ist er wertlos. Man muss manchmal schon genau hinschauen, um zu verstehen, wo die Fakten aufhören und wo der Aktivismus beginnt.
Solange man sich in einem Gebiet nicht sehr gut auskennt, heisst eine Faustregel, dem wissenschaftlichen Konsens mehr Gewicht geben. Das ist zwar ein unwissenschaftlicher Rat, weil sich Erkenntnisse nicht nach den Wünschen der Mehrheit richten. Aber man muss schon gute Gründe haben, um einer Position, die 99 % der Wissenschaftler für Quatsch halten, viel Platz einzuräumen.
Das Problem ist natürlich, dass wir Geschichten von Aussenseitern, die am Ende Recht bekommen, lieben. Und diese Fälle gibt es natürlich auch. Aber es entpuppen sich halt letztlich nur wenige Verrückte als einsame Genies.
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Gibt es Streit-Prinzipien, die Journalistinnen und Journalisten produktiv anwenden können?
Ich glaube, die gibt es.
Das Erste: Wir sollten unseren Interviewpartnern bei heiklen Themen immer die Frage stellen: Was würde Sie von ihrer Meinung abbringen? Ein Fazit aus meinem Buch lautet: Wer nicht formulieren kann, unter welchen realistischen Bedingungen er seine Meinung ändern würde, hat keine Meinung, sondern einen Glauben. Erstaunlich viele Leute bleiben bei dieser Frage stumm.
Das Zweite: Selbst wer der unerschütterlichen Überzeugung ist, recht zu haben, sollte sich immer wieder die Frage stellen: Was wäre, wenn ich falschläge? Wenn wir Wissenschaftler zu kontroversen Themen interviewen, sollten wir sie fragen: Angenommen, Sie hätten nicht recht – welchen Schaden könnte eine Politik aufgrund ihrer Ansichten anrichten. Diese Frage bringt die Menschen zum Nachdenken.
Und dann würde uns ein bisschen Demut guttun, denn die Inkonsequenz, Dummheit, und Indoktrination, die wir bei anderen sehen, erkennen diese in uns.
Plattformen belohnen Zuspitzung. Wie können wir Journalisten online klar bleiben in der Sache, ohne der Empörungsspirale zu verfallen?
Die Frage ist falsch gestellt. Es ist einfach, nicht in die Empörungsspirale zu verfallen. Man muss es einfach nicht tun. Das Problem ist aber, dass man einen Preis dafür bezahlt. Mit differenzierten Beiträgen erzielt man oft keine Reichweite, weil soziale Medien Beiträge mit extremen Haltungen bevorzugt ausspielen. Dafür geben wir gerne dem Algorithmus von Facebook, Twitter oder TikTok die Schuld. Doch wenn dieser Algorithmus nicht auf eine willige menschliche Natur treffen würde, die ebenfalls eine Vorliebe für das Schrille und Kontroverse hat, wäre er chancenlos. Differenzierung kostet Erfolg. Das ist für uns Journalisten das ewige Dilemma. Natürlich finden differenzierte Geschichten ihr Publikum trotzdem. Aber der Aufwand, sie in den sozialen Medien gut zu verkaufen, ist erheblich höher.
Über welches Thema sollten wir mehr streiten?
Über die Herkunft von Meinungen. Diesem Thema würde ich viel mehr Platz einräumen, weil die meisten Menschen dabei einer gigantischen Illusion erliegen. Sie glauben eine Meinung – zumindest ihre eigene – entstehe aus einer nüchternen Bewertung von Fakten. Dabei sind Meinungen oft gar kein rationales Phänomen, sondern ein soziales. Wir nicht sind gegen AKW oder für strengere Grenzkontrollen, weil wir besonders viel von diesen Dingen versehen, sondern weil wir damit signalisieren wollen, wer wir sind und zu welcher Gruppe wir gehören. Wenn wir das verstehen, dann können wir auch besser streiten.
Reto U. Schneider
Reto U. Schneider (*1963) ist stv. Redaktionsleiter von «NZZ Folio». Er hat Elektrotechnik an der ETH Zürich studiert und als Entwicklungsingenieur gearbeitet. Nach dem Besuch der Ringier-Journalistenschule war er Ressortleiter Wissen beim Nachrichtenmagazin «Facts». Seit 1999 ist er bei der NZZ. In seinem letzten Buch «Die Kunst des klugen Streitgesprächs» (Kösel, 2023) beschäftigt er sich mit der dubiosen Herkunft unserer Meinungen.