Ein Journalismus, der immerzu auf die Nachfrage schielt, sei selbstzerstörerisch. Roger de Weck fordert die Journalisten deshalb auf, sich vom Klick-Diktat zu befreien.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie die Reichweitenmodelle der Medien und die daraus resultierende Klick-Orientierung den Journalismus ruinieren. Sie sagen, die Journalistinnen und Journalisten müssten sich auch selbst helfen. Wie?
Wer oft jammert, dem stumpft der Sinn ab dafür, dass er ein Stück weit handeln kann. Zu unserem Beruf gehört, von morgens früh bis abends spät Fehlentwicklungen in Politik und Wirtschaft zu kritisieren. Also sollten Journalistinnen und Journalisten auch Fehlentwicklung in der eigenen Branche frontal thematisieren und bekämpfen. Jede und jeder hat am Arbeitsort etwas Spielraum, und selbst ein kleiner Spielraum lässt sich nutzen. Mein Buch ist sehr wohl auch eine Aufforderung, den journalistischen Freiraum intensiver zu nutzen: widerborstiger zu werden – gegen das Diktat jener Content-Manager, die sich weniger für das Angebot als vielmehr für die Nachfrage interessieren: für die Klicks und Conversions.
Journalisten werden aber immer häufiger an genau diesen Klicks gemessen.
Finden Teile einer Redaktion zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen ihre Obrigkeit, hat das Gewicht, es beeindruckt die Hierarchie. Wenn in Redaktionskonferenzen viele tagtäglich darauf pochen, mühsame und extrem trockene, aber relevante Themen zu erörtern, dann setzen sie ein Zeichen gegen das Klickdenken.
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Sie sprechen davon, wie Konsumismus, Eskapismus und Lebenshilfe die politischen Medien verstopfen. Aber wenn das Publikum genau das verlangt?
Journalismus ohne Sinn für das Publikum wäre selbstzerstörerisch. Aber ein Journalismus, der immerzu auf die Nachfrage schielt, ist es ebenfalls: Er bringt nur noch das, was «funktioniert». Und wenn alle Medien bringen, was «funktioniert», bringen alle das Gleiche. Wettbewerb sollte zur Unterscheidbarkeit statt zur Angleichung beitragen. Kurzfristig «funktioniert» die Klick-Denke, langfristig stösst sie viele Menschen vom Medienbetrieb ab. Rasch steigt die Zahl der Medienvermeider.
Sie fordern, dass der Journalismus seine radikal neuen Rahmenbedingungen stärker reflektiert. Was heisst das für eine Lokalredaktorin oder einen Sportjournalisten?
Der Lokalredaktorin stellt sich etwa die Frage, ob eine aufwendige und «langweilige» Analyse des Haushalts ihrer Gemeinde nicht ein wesentliches Thema sein müsste – denn an den Budgets zeigt sich, was Machtträger wirklich vorhaben. Begreift sich der Journalismus – und zumal der Lokaljournalismus – als Gegenmacht, muss er viele Themen aufgreifen, die beim Publikum eher schlecht «funktionieren». Unterlässt er das, mindert er seine Gegenmacht , seine Geltung. Möchte der Journalismus dem Publikum vor allem gefallen, wird er sich untreu – und öde.
Zum Sportjournalismus bloss eine Bemerkung: Er zählt zu den Sparten, in denen Journalistinnen und Journalisten nach wie vor eine hohe Fachkompetenz haben. Ein Sportmoderator, der von der betreffenden Sportart wenig versteht, ist unbrauchbar. Sportressorts zählen zu den kundigsten auf ihrem Gebiet, das erwartet man wie selbstverständlich von ihnen. Wobei eingeräumt sei, dass sie ein überschaubares Feld beackern.
Sie wehren sich gegen einen «affektiver Hyperjournalismus», der Nutzerinnen und Nutzer die ganze Zeit in ihrem Privatleben und ihrer persönlichen Betroffenheit abholt. Genau das haben wir doch gelernt: die Betroffenheit der Leser suchen?
Ich habe gelernt, dass Journalistinnen und Journalisten Abstand halten: sowohl zu Machtträgern als auch zu jeglichen Strömungen in der Gesellschaft. Zur Pressefreiheit gehört letztlich die innere Unabhängigkeit, nämlich dass man sich nicht liebedienerisch «dem» Publikum anbiedert, sondern gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern unbequem bleibt – attraktiv, aber anspruchsvoll. Irritation macht ohnehin einen Teil der Leserbindung aus. Kritischer Journalismus schafft viel mehr Bindung als ein opportunistisches Schmusen mit den Nutzerinnen und Nutzern. Selbstverständlich muss jede Redaktion mit der Zeit gehen. Die Medienbranche muss sich kräftig erneuern. Aber bitte nicht unter Preisgabe journalistischer Tugenden. Auf Dauer lässt sich nur verkaufen, was substanziell ist: Journalismus rettet sich nicht, indem er die sozialen Medien imitiert. Denn das Original ist stärker als die Kopie. Der Journalismus darf nicht die Fortsetzung der sozialen Medien mit denselben Mitteln sein.
Roger de Weck ist Autor in Zürich, Gastprofessor am College of Europe in Brügge und Mitglied des Zukunftsrats für Reformen bei ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Soeben erschien beim Suhrkamp Verlag sein jüngstes Buch «Das Prinzip Trotzdem – Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen».
De Weck war Generaldirektor der SRG, Chefredaktor der «Zeit» und des «Tages-Anzeigers» und Chairman des Geneva Graduate Institute of International and Development Studies.
10.12.2024